„Wenn ein Mensch den Sinn seines irdischen Lebens versteht, dann ist er glücklich“
Christentum im Fernen Osten Russlands - Ein Erfahrungsbericht
Der Ferne Osten Russlands ist durch seine Ressourcen und die Nähe zu den asiatischen Märkten ausgezeichnet. Für die Russische Orthodoxe Kirche ist diese Region nach 70 Jahren atheistischer Propaganda ein Missionsgebiet geworden, in dem sie auf vorrevolutionäre Traditionen zurückgreifen kann. Fast alle Kirchen wurden zerstört Mit Hilfe privater Spenden und behördlicher Förderungen werden einige wieder aufgebaut. Das wichtige Priesterseminar in Chabarovsk hat nicht nur traditionelle Theologie, sondern auch Missionskunde und Chinesisch im Lehrprogramm. Aber auch die Katholische Kirche ist mit kleinen Pfarren vertreten. Ein rauher, antireligiöser Wind lebt in den russischen Medien wieder auf, seit der besonders initiative Patriarch Kirill öffentliche Präsenz zeigt. Durch persönliche Kontakte suchen Priester und Laien ein positives religiöses Klima in der Gesellschaft zu schaffen.
--- x ---
Was ist jenseits von Sibirien? Der größte Teil der Russischen Föderation liegt östlich des Urals, dünn besiedelt, aber reich an Bodenschätzen. Wenn man gedanklich den asiatischen Anteil Russlands halbiert, so heißt die westliche Hälfte Sibirien, die östliche Hälfte Ferner Osten. Dieses Gebiet grenzt im Süden an die Mongolei und China, im Osten an Japan. Die Verwaltungshauptstadt ist Chabarovsk. Dorthin wurden wir im Juli 2012 vom jungen orthodoxen Weihbischof Dr. Efrem Prosjanok eingeladen.
Bis in die 1980er Jahre war der Ferne Osten aus politischen Gründen für Ausländer praktisch unzugänglich. Jeder, der sich mit Russland beschäftigt und noch nicht so weit in das Land vorgedrungen ist, soll sich vor jedem vorschnellen Urteil hüten – in weltlicher und kirchlicher Hinsicht. Dieser Erfahrungsbericht nach einer Woche Aufenthalt in Chabarovsk möge einen Beitrag zum Verständnis des Landes leisten.
1. Geographische Lage und Geschichte
Die Region ist nicht nur interessant, weil von dort wichtige Rohstoffe nach Westrussland und Europa gelangen, sondern auch in religiöser Hinsicht. Das Gebiet wurde erst im 19. Jh. erschlossen und hat durch die bolschewistische Revolution und den 2. Weltkrieg eine wechselhafte Geschichte hinter sich. Heute liegt der Fokus auf den Beziehungen zu China, an dessen Grenze zu Russland 150 Mio. Menschen leben, während der ganze Ferne Osten Russlands nur etwa 6 Mio. Einwohner zählt.
Die Hauptstadt des Fernen Ostens, Chabarovsk, liegt südlicher als Moskau. Das Klima ist extrem kontinental. Die Winter sind sehr kalt - bis minus 35 Grad. In den Sommermonaten herrscht eine beständige Hitze. 35 Grad sind keine Seltenheit, aufgrund der Nähe zum Fluss Amur und den dichten Wäldern der Taiga steigt die Luftfeuchtigkeit auf fast unerträgliche 100% an. Besonders in den Monaten Mai und Juni plagen Mücken, Bremsen und Gelsen die Bewohner von Chabarovsk. Nicht umsonst wurde diese Gegend sehr spät besiedelt. Das weite Waldgebiet der Taiga ist touristisch nicht erschlossen.
Die Flüsse sind reich an für die Gegend einzigartigen Fischarten, die in Europa nicht bekannt sind. Die Seen und Flüsse ziehen sich durch die Wälder, in denen absolute Stille herrscht, entfernt von der Zivilisation, ein Ziel für Gottsucher und Naturliebhaber. Einige Gäste kommen aus Japan, die Gärten pachten und ein, zwei Monate bewirtschaften. Westeuropäer trifft man in dieser Gegend selten an.
Die Geschichte Chabarovsks reicht nicht weit. Heute ist es mit dem Flugzeug 8 Stunden von Moskau entfernt, mit der Bahn eine Woche. Die Teilnehmer der ersten Expeditionen aus dem europäischen Teil Russlands nahmen im 17. Jh. noch mehrere Monate risikoreiche Wanderungen auf sich. Diese Pioniere stießen hier auf Ureinwohner (2) , die zum Teil kulturell hochentwickelt waren, wie an ihren reich bestickten Gewändern erkennbar ist, zum Teil die Jungsteinzeit bewahrt hatten. Im Norden des Fernen Ostens sind Naturreligionen bis heute weit verbreitet, wobei manche Schamanen in offener Gegnerschaft zum Christentum stehen. Die Zahl der Ureinwohner sinkt beständig. Der Grund sind nicht schlechtere Lebensbedingungen, sondern dass viele von ihnen an chronischem Alkoholismus erkrankt sind und offenbar physisch schneller in Abhängigkeit geraten als Europäer.
Der Ort Chabarovsk wurde erst Mitte des 19. Jh. von Nikolaj Nikolaevič Muravëv als Militärposten gegründet und nach E.P. Chabarov, dem ersten Expeditionsleiter des 17. Jh., benannt. Heute ist die Siedlung auf eine Stadt von 600.000 Einwohnern angewachsen. Die Region am Amur, im Russischen Priamúr'e genannt, wurde lange Zeit gleichermaßen von Russland und China beansprucht, bis 1858 der Ajgunskij-Vertrag dieses Gebiet der Russischen Monarchie zuschrieb. Muravëv erhielt für diesen Erfolg den Titel Graf Amurskij.
Man würde sich erwarten, dass der Graf durch seine Leistungen Ruhm in seiner Heimat erlangt hat. Seine Arbeit handelte ihm in der Hauptstadt des Russischen Reiches aber nicht nur Freunde ein. Petersburger Beamte arbeiteten gegen ihn und versuchten ihn nicht nur einmal beim Zaren zu verleumden. Man wies den Ortsbischof Innokentij auf die Unzulänglichkeiten des gräflichen Gouverneurs hin. Er kannte sie, ließ sich aber nicht zu einem negativen Urteil verleiten. So antwortete er einfach: „Engel werden keine Gouverneure. Und Menschen bleiben Menschen.“
Aus dem Militärstützpunkt ist Ende des 19. Jh. eine Stadt mit Fabriken und ein Handelszentrum für den Fernen Osten geworden. Das weitläufige Umland wird Priamur'e genannt, was so viel wie „am Amur gelegen“ bedeutet. Es ist bis heute eine wichtige Rohstoffquelle für die russische Wirtschaft und erstreckt sich über drei Verwaltungsbezirke der Russischen Föderation: Chabarovsker Landkreis, Priamur-Landkreis, Jüdische Autonome Republik – dieser Name rührt daher, dass Stalin dort zwangsweise russische Juden ansiedelte.
Chabarovsk ist die Hauptstadt des Chabarovsk-Landkreises und die Verwaltungshauptstadt des Fernen Ostens, obwohl das 700 km entfernte Vladivostok fast doppelt so viel Einwohner zählt, einen Zugang zum Meer und mehrere Universitäten hat. Diese zwei Städte stehen im ständigen Wettbewerb miteinander.
2. Kirchliches Leben in Chabarosk
Chabarovsk ist nicht nur administratives Zentrum, sondern auch ein wichtiger Ort in kirchlicher Hinsicht. Die Russische Orthodoxe Kirche ist seit der Gründung der Stadt präsent. Der erste Bischof war der hl. Innokentij (Veniaminov), die Diözese, die den Fernen Osten umfasste, wurde 1840 durch einen Erlass des Zaren eingerichtet. Die Stadt Chabarovsk ist der Sitz des Metropoliten von Chabarovsk und Priamursk mit zwei Weihbischöfen. Im Titel des Metropoliten bezeichnet Chabarovsk die Hauptstadt und Priamursk die Region. Der Status der Bischöfe in der Russischen Orthodoxen Kirche ist aus dem Namen ersichtlich: Regierende Bischöfe tragen einen zweifachen Titel, Weihbischöfe einen einfachen. Die Aufgaben der Weihbischöfe sind unterscheiden sich: Einer betreut das Priesterseminar, der andere leitet das Vikariat Nikolaevskoe, 1200 km von Chabarovsk entfernt mit 5 Pfarren in einem riesigen Territorium, in dem die Entfernung zwischen den Pfarren nur über Flugzeug oder Helikopter zu bewältigen ist. Der Chabarovsk-Landkreis bzw. die Diözese umfassen ein Gebiet der Fläche Frankreichs.
Trotz der großen Entfernungen wurde seit den 1990er Jahren ein gut funktionierendes Netz von Pfarren und Hauskirchen aufgebaut. Das kirchliche Leben blüht im Gebiet von Chabarovsk auf, im Priesterseminar wird auch Chinesisch unterrichtet, die Kirche sucht neue Formen der Zusammenarbeit mit Staat und Gesellschaft.
Das Seminar von Chabarovsk bildet derzeit 50 Studenten im stationären Betrieb und 120 Fernstudenten aus. Das sind Priester, die schon in der Seelsorge tätig sind, aber noch ihr Studium abschließen müssen oder sich weiterbilden. Außerdem gibt es theologische Kurse für 120 Laien. Die Metropolie von Chabarovsk und Priamursk hat 42 staatlich registrierte und 43 nicht registierte Pfarren, aber nur 35 Pfarren verfügen über eine eigene Kirche. Auf dem Gebiet der Metropolie wohnen 1 440 000 Menschen, davon sind 40% orthodox, 35% bezeichnen sich als Atheisten. Der gesamte Ferne Osten Russlands zählt etwa 250 Pfarren in 10 Diözesen, wobei es nur in Chabarovsk und in Jakutsk Seminare gibt. In der Diözese Chabarovsk wirken 66 Priester und Diakone, sieben von ihnen sind Mönche, die meisten stammen aus dem europäischen Teil Russlands. Das Priesterseminar ist nur zu einem Drittel ausgelastet. Es wäre Platz für mehr Studenten. Das Interesse für das Priesteramt könnte höher sein. Etwa eine Stunde von der Hauptstadt entfernt liegt mitten in der Taiga auf einer Anhöhe das einzige Kloster der Diözese. Es wurde 2002 zu Ehren der Hll. Petrus und Paulus gegründet. 19 Nonnen, von denen einige ein abgeschlossenes Studium vorweisen können, betreiben eine kleine Landwirtschaft mit 9 Kühen. Zurzeit wird ein größeres Konventgebäude errichtet, das auch eine Paramentenschneiderei beherbergen wird.
Im Chabarovsk-Landkreis, dessen Fläche mit dem Gebiet der Diözese von Chabarovsk ident ist, befanden sich vor der Revolution 100 Kirchen, alle bis auf zwei kleinere Kirchen wurden zerstört. Eine davon diente als Bischofskirche. Mitte der 1990er Jahre wurde Bischof Mark als neuer Ortsbischof eingesetzt. Er erzählte, dass ihm die Tränen kamen, als er seine Kathedrale das erste Mal betrat – eine Kirche so groß wie eine Dorfkirche in Westeuropa, aber keinen Dom. Sowjetische Kunsthistoriker hatten den Kirchen dieses Gebietes keinen kulturhistorischen Wert zugemessen, weil sie alle erst im 19. Jh. errichtet worden waren. Deshalb wurden alle niedergerissen, unbemerkt von der internationalen Staatengemeinschaft. Nur der antireligiöse Vernichtungsfeldzug der Bolschewiken im Westen Russlands erregte internationalen, wenn auch verhaltenen Widerstand. Dort blieben einige wenige Gotteshäuser unbeschädigt, weil sie als historisch wertvoll galten. Paradox scheint, dass einige Revolutionäre und Christenverfolger der 1920er Jahre in russischen Priesterseminaren ausgebildet worden waren. Aber auf denselben Vorlesungsbänken wie sie saßen auch die neuen Märtyrer der Sowjetzeit und hörten die Vorträge derselben Theologieprofessoren. Der Kirchenkampf des militanten Atheismus hinterließ ein religiöses Vakuum.
Die politische Wende Ende der 1980er Jahre brachte für die Kirche die Freiheit ohne finanzielle Basis. Ihr Potential steckt bis heute in den hochmotivierten
jungen Geistlichen, Nonnen und Laien, die innovativ und gleichzeitig – in westlichen Kategorien gedacht – konservativ das Evangelium verkünden. Die Mission liegt nicht im liturgischen Experiment, sondern in der Wiederbelebung alter Traditionen: seien es die Ikonenkunst, der Kirchenbau und die liturgischen Paramente, seien es die Schriften der Kirchenväter, die Lehre der Starzen und geistlichen Väter asketischer Tradition. Bei aller Bewahrung von vorrevolutionärer Überlieferung bedienen sich die Kirchenleute modernster Hilfsmittel: Die orthodoxen Internetseiten gehören zu den professionellsten religiösen Websites überhaupt. Die Diözese von Chabarovsk hat ein eigenes TV-Studio, das mit simplen Mitteln aktuelle Berichte aus dem kirchlichen Leben produziert. Studenten und Seminaristen wurden mit einer einfachen Kamera, Stativ und Mikrophon ausgestattet und dokumentieren kirchliche Ereignisse. Die Kurzfilme werden auf dem diözesanen Videokanal in YouTube veröffentlicht.
Das Budget der Diözesen ist mehr als bescheiden. Es speist sich allein aus Spenden. Einnahmen aus Vermietung und Landwirschaft gibt es praktisch keine, weil die Immobilien dazu fehlen. Kirchenneubauten werden mit Unterstützung der Behörden durchgeführt. Wenn man bedenkt, welche religiösen Kunstschätze in den 70 Jahren kommunistischer Diktatur von Staats wegen vernichtet wurden, sind die staatlich finanzierten, wiedererrichteten Kirchen nur ein Bruchteil einer – theoretischen – Kompensation. Zu diesen Kirchen zählt die Kathedrale des Hl. Innokentij in Chabarovsk, die erst 2003 wiederaufgebaut wurde , daneben das neue Priesterseminar.
Die Zerstörungswut machte auch nicht halt vor privatem religiösem Besitz. Die meisten Ikonen wurden in der Sowjetzeit vernichtet, im Besitz einer Ikone zu sein, konnte lebensgefährlich werden. Manche Ikonen gelangten in Museen. Auch dort waren sie nicht sicher. Um Muttergottesikonen vor der Vernichtung zu bewahren, wurden sie von Museumsmitarbeitern unter der Bezeichnung „Frau mit Kind“ in den Museumskatalog eingetragen, so wurden sie nicht entdeckt. Wenn sich Museumsdirektoren heute zu den christlichen Wurzeln Russlands bekennen oder zumindest aufgeschlossen sind, suchen sie Kontakte zur Kirche und laden ihre Vertreter zu offiziellen Anlässen in ihre Institutionen ein. 2012 wurde im Chabarovsker Grodekov-Museum für Landeskunde eine "Abschrift" (gemalte Kopie) der Ikone der Albazinskaja-Muttergottes durch den Chabarovsker Weihbischof Efrem gesegnet. Das Original war der Kirche zurückgegeben worden, die Abschrift fand nun einen festen Platz im Museum. Die wundertätige Albazinskaja-Muttergottes war von den ersten Gesandten Moskaus auf ihrer Expedition im 17. Jh. in diese Gegend mitgenommen worden, als die russischen Siedler im heftigen Kampf mit den benachbarten Chinesen standen.
Ikonen und Kirchen waren und sind nicht nur Träger der Kultur, sondern auch Zufluchtsort in persönlichen Anliegen. Ihre Popularität ist im ganzen Land bemerkbar. 2006 wurden Reliquien des hl. Bischofs Nikolaus von Myra nach Chabarovsk gebracht und kurzzeitig auch am Flughafen zur Verehrung ausgestellt. Zur Verehrung wurde über die Ansage des Flughafens eingeladen. Spontan bildete sich eine Schlange von Gläubigen, Frauen und Männern. Da nur ein Kopftuch verfügbar war, wurde es von Frau zu Frau gereicht, um allen ein würdiges Gebet und Verehren der Reliquien zu ermöglichen.
Obwohl sich heute über 70% der Bevölkerung Russlands zum orthodoxen Glauben bekennen , geht die Restitution kirchlicher Güter im Fernen Osten wie in ganz Russland nur schleppend voran. Ein entsprechendes Gesetz wurde erst 2010 verabschiedet, aufgrund dessen religiösen Gemeinschaften enteignete Güter zurückgeben werden sollten. Die Immobilien sind jedoch nicht frei für eine Übergabe. Schulen, Krankenhäuser, Gefängnisse, wissenschaftliche Institute sind seit Jahrzehnten darin untergebracht. Von Seiten der Orthodoxen Kirche versucht man, jede Konfrontation mit gesellschaftlichen Institutionen zu vermeiden. Man will auch nicht das langsam wachsende Wohlwollen staatlicher Organe zerstören. Somit werden nur Objekte an die Kirche zurückgegeben, die dem Staat keinen Nutzen oder finanziellen Gewinn bringen. Verwahrloste und herabgekommene Kirchen und Klöster gelangen Schritt für Schritt in den Besitz der Kirche. Fehlende Immobilien bedeuten aber für die Kirche auch fehlende Einnahmen, die dringend benötigt werden.
Patriarch Kirill weist den Klerus immer wieder darauf hin, dass heute besonders in die Ausbildung, die Jugendarbeit und soziale Tätigkeit investiert werden müsse. Die Kirche braucht weitere Gebäude und gleichzeitig müsste sie Gebäude renovieren. In Moskau ist der Mangel an Kirchen im Verhältnis zur Bevölkerung besonders groß. Für 40.000 Einwohner sollte eine Kirche zur Verfügung stehen, sagte Patriarch Kirill. Derzeit fehlt es gerade in den Außenbezirken der Hauptstadt an Gotteshäusern. Zum Beispiel hat der Bezirk
Ramenki trotz einer Bevölkerung von 130.000 nur eine kleine Holzkirche.
Wenn sich die Kirche bemüht, alle Schichten in der Gesellschaft zu erreichen, wird sie auch in aktuelle Fragen der Politik involviert, wobei sie versteht, sich nicht in die Tagespolitik hineinziehen zu lassen. Trotzdem macht die Politik vor der Kirche nicht halt. Als das neue Gesetz über Kundgebungen verlautbart wurde, diskutierte man 2012 öffentlich in Chabarovsk, auf welchem Platz Demonstrationen zugelassen werden sollten. Zur Diskussion stand der Platz vor der Kathedrale. Ein Weihbischof wurde öffentlich nach seiner Meinung gefragt. Er antwortete, die Demonstranten sollten dafür sorgen, dass sie nicht die Gottesdienste in der Kirche stören, und die Stadt sollte sich darum kümmern, dass der Müll der Demonstranten auch weggeräumt werde, der Platz sollte eigentlich der Erholung der Stadtbewohner dienen. Die Befürchtungen des Bischofs hatten einen konkreten Hintergrund. Im April 2012 wurde die Chabarovsker Maria-Entschlafungskirche außen mit vulgären Parolen auf Englisch und Russisch beschmiert und im Internet dazu aufgerufen, am Tag der Taufe Russlands, dem 28. Juli 2012 dies in ganz Russland nachzuahmen. Immer wieder kommt es zu Vandalismus in Kirchen, deshalb ist in jeder Kirche ein Wächter oder zumindest eine Kerzenverkäuferin präsent. Viele Kirchen sind tagsüber geschlossen. Die kirchliche Hierarchie sucht ein gutes Auskommen mit der Politik, sie ist auf die Stadtverwaltung angewiesen, da sie den Neubau von Kirchen nicht allein finanzieren kann. Der Gouverneur von Chabarovsk unterstützte die Diözese beim Bau des Seminars und der Kathedrale. Es war angedacht, die Schule neben dem Seminar zu einem kirchlichen Gymnasium umzuwidmen. Nach den Wahlen 2011/12 erfolgte jedoch ein Wechsel in der Regierung, weil der Gouverneur zum Minister für die Entwicklung des Fernen Osten befördert wurde. Der neue Gouverneur hat derzeit andere Prioritäten, der Minister greift nicht ein.
Interessant ist das politische Bild im Chabarovsker Landkreis: Bei den Wahlen zur Duma im Dezember 2012 erhielt die regierungsnahe Partei „Edinaja Rossija“
38% der Stimmen. Erstaunlich ist der hohe Anteil an Stimmen für die Partei der Kommunisten mit 20%. Auch unter gebildeten jungen Menschen war die Kommunistische Partei eine Option, weil sie nicht mehr als Bedrohung der Freiheit, sondern ein historisches Phänomen und Ausdruck des Protestes gegenüber der Regierung gesehen wird. Die nationalpatriotische liberale Partei erreichte ebenso 20% der Stimmen. Bei den Präsidentenwahlen im März 2012 stimmten 56% der Wähler für V.V. Putin, 18% für den Vorsteher der Kommunistischen Partei G. Zjuganov.
3. Kirche und Gesellschaft
Inwiefern Politik und Kirche aufeinander wirken oder unabhängig voneinander sind, ist auch in Russland eine aktuelle Frage. Ein Charakteristikum der Orthodoxen Kirche ist, dass sie nicht ein Fremdkörper im Land ist. Dabei zeigt sich die Stellung der Kirche in der Gesellschaft zeigt sich von mehreren Seiten.
Einerseits steht heute die Kirche in der öffentlichen Meinung mit einer hohen Reputation. Eine Schlüsselfigur kirchlicher Identifikation ist der Patriarch. Die Wahl von Patriarch Kirill 2009 stärkte die Position des Amtes und seinen Ruf in der Öffentlichkeit. Patriarch Kirills Tätigkeit beschränkt sich nicht auf das innerkirchliche Leben, er äußert sich auch zu gesellschaftspolitischen Fragen. Sein gesellschaftspolitischer Anspruch ist ein Grundzug kirchlicher Sendung. In diesem Sinn setzen sich viele orthodoxe Geistliche und Laien nicht nur für das persönliche Seelenheil der Kirchgänger ein, sondern auch für eine gute Entwicklung der Gesellschaft und für die Achtung vor der russischen Kultur, Geschichte und Nation. Die Orthodoxe Kirche in Chabarovsk initiierte Projekte für Drogenkranke, Obdachlose und Alkoholiker. Außerdem veranstaltete die Diözese 2012 eine Woche des slawischen Schrifttums und der Kultur.
Interview mit dem Chabarovsker Künstler und Kunstpädagogen Aleksandr Petrovic Lepetuchin über Kunst und Religion
Christentum und Kultur gehören in Russland seit der Taufe der Rus' eng zusammen. Dabei beschränkt sich die Kirche nicht auf die Weitergabe liturgischer Texte und der Hl. Schrift auf Kirchenslawisch. Der hl. Bischof Innokentij übersetzte im 19. Jh. das Evangelium und die orthodoxe Liturgie in die Sprache der Ureinwohner des Fernen Ostens und Alaskas, der Alëuten. Die breite Wirkung des kulturpolitischen Engagements der Kirche zeigt sich daran, dass sich an den Veranstaltungen der Kirche nicht nur Kleriker und gläubige Laien beteiligen, sondern auch Behörden und Kulturorganisationen.
An den Pforten der Schulen endet der Einfluss der Kirche. Es gibt keinen konfessionellen Religionsunterricht an öffentlichen Schulen. Seit dem Schuljahr 2011/12 wurde aber ein verpflichtendes Fach eingeführt, das im Probebetrieb in mehreren Regionen schon unterrichtet worden war. Es besteht aus 6 Wahlfächern, wobei eines zu wählen ist: weltliche Ethik, Geschichte der Religionen, Grundlagen der orthodoxen, der islamischen, der buddhistischen oder der jüdischen Kultur. Im Chabarovsker Landkreis haben 18% der Schüler Grundlagen der orthodoxen Kultur und 54% weltliche Ethik gewählt. Das Bildungsministerium veranstaltet jährlich einen Wettbewerb („Olympiade“ ) im Fach Grundlagen der orthodoxen Kultur, bei dem die Religionszugehörigkeit nicht von Belang ist, da ja auch das Fach überkonfessionell ist. Im Landkreis von Stavropol am Schwarzen Meer gewann ein muslimischer Schüler den Wettbewerb und stieg in die Bundesolympiade auf. Die Fächer „Grundlagen der orthodoxen, islamischen, buddhistischen, jüdischen Kultur“ sollen eine Einführung in die von der Mehrheit praktizierte Religion geben, die das kulturelle, politische und gesellschaftliche Leben der jeweiligen Region in Russland prägt. So sprach sich ein leitender Mufti der Russischen Föderation dafür aus, dass auch muslimische Schüler dieses Fach in der orthodoxen Variante besuchen, um ihre Umgebung und ihre Geschichte zu verstehen. Der Unterricht dieses Faches muss in Zusammenarbeit mit dem jeweiligen religiösen Oberhaupt der Religion abgestimmt sein. Es wird im Ausmaß von einer Wochenstunde unabhängig von der Schülerzahl angeboten, ist in der 5. Schulstufe verpflichtend und kann in den darauffolgenden Schulstufen gewählt werden. Als Unterrichtende sind Priester nicht zugelassen. Aber es ist zumindest eine Möglichkeit für gläubige Laien, religiöses Grundwissen in einem Land zu vermitteln, in dem noch vor wenigen Jahrzehnten der Besitz von Ikonen geächtet wurde.
Im Gegensatz zum kulturhistorischen Engagement der Orthodoxen stehen viele, heute sehr aktive Sekten und christliche Gruppierungen. Sie klammern diese Aspekte gesellschaftlichen, kulturellen Engagements völlig aus ihrer Verkündigung aus und predigen nur das persönliche Heil des Einzelnen. Im Fernen Osten Russlands sind mehr Sekten als Pfarren staatlich registriert (3). Mit finanziellen Mitteln aus dem Ausland bauen sie Gotteshäuser im Stadtzentrum, können aber nichts mit Ausdrücken wie „Liebe zur Heimat“ anfangen, da es meist ausländische Prediger sind, die mit der Geschichte und Kultur des Landes nicht vertraut sind. Manch einem westlichen Theologen mögen patriotische Begriffe in kirchlichen Dokumenten missfallen. Wer aber die Situation vor Ort gesehen hat, wird verstehen, warum kirchlicher Glaube und Liebe zur Heimat in Russland nicht voneinander zu trennen sind.
Trotz der gewachsenen Autorität und Popularität des Patriarchen Kirill wurden Stimmen in der Öffentlichkeit laut, die sich bewusst über die Kirche lustig machen, um ihre gesellschaftliche Kraft zu schwächen. Kritik wird von der breiten Masse übernommen und unreflektiert weitergegeben. In der Bevölkerung fehlt in weiten Teilen eine grundlegende religiöse bzw. religionswissenschaftliche Ausbildung. Das erstreckt sich auch in journalistische Kreise. So erlebte ein Bischof, der oft mit den öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs ist, dass sich junge Menschen hinter ihm über ihn lustig machten: „Ist der Mercedes von Hochwürden heute in der Reparatur, dass er mit dem Bus fahren muss!?“
Ein Beispiel unreflektierter oder bewusst manipulativer Berichterstattung in den Medien ist die Reaktion auf ein Gesetz, das 2012 erlassen wurde. Organisationen mit über 50%iger ausländischer Finanzierung wurden unter Beobachtung durch staatliche Behörden gestellt. Ausgenommen davon sind religiöse Vereinigungen. Das kritisierte eine Zeitung, indem sie verlauten ließ, dass die Orthodoxe Kirche jährlich mehrere Milliarden Dollar aus dem Ausland erhalte. Dabei wurde aber nicht erwähnt, dass sich fast die Hälfte der Pfarren der Russischen Orthodoxen Kirche im Ausland befinden: Ukraine, Weißrussland, Zentralasien, Baltikum, das sind die ehemaligen Staaten der Sowjetunion, u.a. Länder. Von dort wird ein Teil des Patriarchatsbudgets gespeist. Schlecht informierte Artikel über die Russische Orthodoxe Kirche finden sich aber leider auch in westeuropäischen Qualitätsmedien. So berichtete die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 19.7.2012 über die Überschwemmungen in der Stadt Krymsk im Landkreis von Krasnodar, der an das Schwarze Meer grenzt (4). Dabei wurde behauptet, dass sich die Bewohner dieser Gegend heftig darüber beklagten, dass sich die Orthodoxe Kirche nicht für sie einsetze und obendrein noch Stolengebühren für Begräbnisse verlange. Die Pressestelle des Moskauer Patriarchats stellte diese Meldung umgehend richtig und informierte darüber, dass in den Pfarren des Patriarchats innerhalb von wenigen Wochen über 15 Mio. Rubel (umgerechnet etwa 400.000 EUR) für die Flutopfer gesammelt worden waren und eine ausdrückliche Weisung des zuständigen Bischofs bestand, keine Stolengebühren zu verlangen.
Manche Medien mit besonderer Breitenwirkung – das staatliche Fernsehen nicht ausgeschlossen – suchen Kritikpunkte an der Kirche. Da die Orthodoxe Kirche auf Spenden einzelner Unternehmer angewiesen ist, wird hier angeknüpft. So kritisiert man die Uhr des Patriarchen, das Auto des Bischofs, die Wohnverhältnisse des Pfarrers, ohne zu bedenken, dass man sich Geschenke nicht aussuchen kann. Das Seminar in Chabarovsk wurde mit Unterstützung des Gouverneurs gebaut. Neben den zwei Seminargebäuden wird gerade ein Geschäftszentrum gebaut, wo eigentlich der Garten des Seminars geplant war. Das Geschäftszentrum dient als Einnahmequelle für die Baufirma, die das Seminar errichtet hatte. Trotz gegenläufiger Medienberichte fliegt Patriarch Kirill nicht im eigenen Jet, sondern mit dem Flugzeug, das ihm die Geschäftsführerin der russischen Fluglinie Transaero zur Verfügung stellt. Aber das ist kein Privileg oder Anrecht des Kirchenoberhauptes, sondern ein Entgegenkommen einer Gläubigen, das auch nicht von Dauer sein muss.
Gerade angesichts der antikirchlichen Propaganda suchen Priester und Bischöfe persönlichen Kontakt zu Menschen, die von Staats wegen über siebzig Jahre und durch den Einfluss mancher Medien auch heute noch von der Kirche ferngehalten werden. Ein Weihbischof wurde an eine Chabarovsker Hochschule eingeladen, einen Vortrag über orthodoxe Ikonen zu halten. Es war eine unruhige Stimmung im Vorlesungssaal, man empfing ihn von Seiten der Studenten mit ironischen Bemerkungen. Als er die Vorlesung möglichst rasch abschloss, gab er den Zuhörern noch die Gelegenheit, Fragen zu stellen. Erstaunlicherweise entwickelte sich aus der feindseligen Atmosphäre ein freundschaftlicher Dialog. Die anfangs besonders kritischen Studenten brachten sich unerwartet konstruktiv in das Gespräch ein. Natürlich stellte man auch ihm Fragen über den von Medien kolportierten Reichtum der Kirche. Er antwortete mit einer Gegenfrage: „Wer von Ihnen ist nicht selbst von den Sünden betroffen, die Sie kritisieren? Wer kann von sich sagen, dass ihm Habgier, Unzucht, Neid, Hass fremd sind? Nach der Lehre der Orthodoxen Kirche beginnt die Sünde in den Gedanken, wenn man an der Sünde gefallen findet.“ Diese Antwort verblüffte das Publikum und machte viele nachdenklich.
Die Kirche erfüllt heute eine wichtige moralische Aufgabe in der Gesellschaft und darf sich nicht davon abhalten lassen, auch wenn man sich über sie lustig macht und versucht, sie zu marginalisieren.
4. Das Glaubensleben
Die Resonanz unter den Gläubigen für die Botschaft der Kirche zeigt sich unter anderem in der ernsthaften Teilnahme an den Gottesdiensten. So wird am Vorabend zum Sonntag in der Kathedrale die zweieinhalbstündige Vigil gefeiert. Wir standen in der Kirche, was für Katholiken aus Westeuropa nicht leicht durchzuhalten ist. Dabei konnten wir beobachten, dass alle Generationen vertreten waren, auch junge Mütter mit ihren Kindern. Etwa 70 Gläubige gingen zur Beichte, weil sie am nächsten Tag die Hl. Kommunion empfangen wollten. Besonders beeindruckend sind die Stimmen der Geistlichen, die ohne Mikrophon die Kirche erfüllen. Die Liturgie ist nach Osten ausgerichtet, die Positionen der Geistlichen und der Ministranten verteilen sich über die ganze Kirche, das wird auch von den Stimmen widergespiegelt, die aus verschiedenen Richtungen ertönen. Von der Empore im Westen singt der gemischte Chor. Während der Liturgie kam ein Brautpaar, um vor den Ikonen zu beten. Kirchliche Trauungen werden üblicherweise am Sonntag im Anschluss an die Göttliche Liturgie gefeiert. Trotzdem kommen Brautpaare gerne in die Kirche, um vor bestimmten Ikonen oder Reliquien zu beten.
Es ist ein typisch russischer Brauch für Brautleute, nicht nur eine Kirche aufzusuchen, sondern sich auch vor Denkmälern fotografieren zu lassen. Wenn man durch Chabarovsk spaziert, fallen die sorgfältig renovierten historischen Gebäude auf. Als Gast aus dem westlichen Ausland bemerkt man ebenso die Kioske am Straßenrand, in denen nicht nur Tageszeitungen, sondern auch gedruckte Ikonen verkauft werden. Sogar am Flughafen werden Devotionalien angeboten, mitten in der Flughafenhalle stehen Ikonen der heiligen Nikolaus und Elisabeth, um den Gläubigen Gelegenheit zum Gebet zu geben. Das Bild der Stadt hat sich in den letzten zwanzig Jahren stark verändert. Es leuchten nicht nur die Kuppeln der wiedererrichteten Kathedrale, Blumenbeete und Parks wurden angelegt. Die Promenade am Flussufer unterhalb der neu errichteten Maria-Entschlafungskirche ist seit zwei Jahren als „gesunde Zone“ konzipiert. Die Stadtregierung hat hier Rauchen und Alkoholkonsum verboten. Offensichtlich hält man sich daran, die Atmosphäre ist erholsam, obwohl von einem Ausflugsschiff manchmal laute Musik herauf tönt.
Priester und Studenten gehen bewusst im geistlichen Gewand auch in der Öffentlichkeit. Immer wieder bitten Menschen um den Segen. Viele schätzen die positive Wirkung der Kirche auf die gesellschaftliche Entwicklung, die Bildung des Gewissens des Einzelnen. Das Chabarovsker Radio „vesti“ bringt jeden Sonntag eine zwanzigminütige Sendung über orthodoxen Glauben und Traditionen, zu der Vertreter der Kirche eingeladen werden (Sendung vom 22.7.12 mit zwei österreichischen Benediktinern). Sie zeigen, wie Religion hilft, einen Sinn im Leben zu finden: Oder sind etwa finanzielle Gewinne des Einzelnen und einzelner Gruppen das Ziel des menschlichen Arbeitens? Brauchen Wirtschaftstreibende und Politiker ein persönliches Gewissen? 2012 wurde die Gründung einer Vereinigung orthodoxer Ärzte und orthodoxer Wirtschaftstreibender initiiert, wie das Chabarovsker Diözesanblatt berichtete. 2008 wurde vom Parlament mit Zustimmung aller großen religiösen Organisationen ein neuer Feiertag in Russland eingeführt: das Fest der Familie, der Liebe und der Treue am 8. Juli, dem Gedenktag der heiligen russischen Fürsten Peter und Fevronija (13.Jh.). Das Fest der Taufe der Rus' fand 2012 auch in Chabarovsk Widerhall in den Medien. Das Lokalfernsehen berichtete davon, dass in ganz Russland die Glocken läuteten, um an dieses Ereignis im Jahr 988 zu erinnern.
5. Zwischenkirchliche Kontakte
Wie verhält sich die Orthodoxe Kirche in Chabarovsk zur Katholischen Kirche? Die Kontakte mit der Orthodoxen Kirche in Russland sind prinzipiell sehr unterschiedlich, manchmal positiv, manchmal reserviert bis distanziert. In Chabarovsk werden freundschaftliche Kontakte zwischen den Kirchen gepflegt. Ein Zeichen dafür war die Einladung für uns als Benediktiner im orthodoxen Priesterseminar als Gäste des Bischofs zu wohnen. 2007 wurden dem orthodoxen Bischof feierlich Reliquien des Hl. Johannes Chrysostomus aus dem Vatikan von einem japanischen Kardinal übergeben. Ein wesentlicher Teil des Anfangsbestands der Bibliothek des Seminars wurde von einem katholischen Priester gestiftet. Nuntius Antonio Mennini besuchte die Diözese 2006 . Im August 2012 versammelten sich junge Katholiken aus dem ganzen Fernen Osten Russlands im orthodoxen Priesterseminar zu einem Vortrag von Weihbischof Efrem.
Im Fernen Osten Russlands gibt es etwa 15 katholische Pfarren u.a. auf Kamtschatka, in Chabarovsk, in Jakutien mit je etwa 50 Gläubigen - gemessen am Gottesdienstbesuch. In Vladivostok gibt es sogar drei Pfarren. Wenn eine Pfarre keine Kirche hat, treffen sich die Gläubigen zum Gottesdienst in einer Wohnung. Jedes Jahr wird in einer der Pfarren ein Jugendtreffen organisiert, an dem ungefähr 40 Jugendliche aus dem ganzen Fernen Osten mit Priestern und Schwestern teilnehmen. Die Priester stammen u.a. aus den USA, aus der Slowakei, aus Argentinien, auch die Schwestern sind aus der ganzen Welt und betreuen die Pfarrhaushalte oder ein Kinderheim.
6. Zwei Welten
Vieles ist unerwartet, was man im Fernen Osten Russlands sieht, für einen Westeuropäer aufschlussreich. Zur Illustration sollen am Ende dieses Berichts über den Aufenthalt im Fernen Osten noch Besuche in zwei sehr unterschiedlichen Institutionen geschildert werden – in einem Nonnenkonvent und in einer Kaserne:
Als wir am Freitag, den 27.7., zum St.-Peter-und-Paul-Kloster an einem See mitten in der Taiga aufbrachen, begann es stark zu regnen. Eine Stunde fuhren wir im heftigen Dauerregen, der für diese Jahreszeit untypisch ist. Beim Kloster angelangt, konnten wir schließlich ohne Schirm das junge Heiligtum besichtigen. 2003 wurde das Kloster gegründet, jetzt stehen schon die Kirche, ein Gästehaus, das neue Konventgebäude im Rohbau, ein Stall mit 9 Kühen und ein Kohleheizhaus. Äbtissin Antonija und die Nonne Paraskeva erwarteten uns schon beim Zaun. Sie begleiteten uns ins Gästehaus und bewirteten uns mit Tee, Honig, selbstgebackenen Süßigkeiten und frischer, heißer Kuhmilch. Vor dem Gästehaus brach die Sonne hinter den Wolken hervor: „Hier öffnet sich der Weg zum Himmel.“ Das zutiefst geistliche Gespräch, zu dem uns Weihbischof Efrem, Äbtissin Antonija und die Nonne Paraskeva einluden, zeigte das Wesen des Mönchtums auf. Wer ins Kloster geht, nimmt seine Erwartungen, seine Leidenschaften und seine Masken mit. Spätestens nach einem halben Jahr legt jeder seine Maske ab und erkennt langsam sich selbst. Eine wesentliche Aufgabe im geistlichen Leben ist interessanterweise nicht das Ertragen des Anderen, sondern das Ertragen seiner selbst. Erst wenn ein Mensch bereit ist, Gottes Willen zu tun, Gehorsam zu üben und sich zurückzunehmen, kann er das Klosterleben auf sich nehmen. Sr. Paraskeva bekannte, dass man erst dann bemerkt, in welchem Parardies man im Kloster lebt und welche Gnade es ist, im Kloster sein zu dürfen.
Für viele Gäste ist es eine Offenbarung, die jungen Menschen im Kloster zu sehen. Eine Lehrerin, die ihre Schüler auf Exkursion ins Kloster führte, erklärte einem fragenden Schüler, dass Menschen mit Behinderungen ins Kloster gingen, weil sie in der Welt nicht überleben können. Dieses Image haben Klöster gerade dort, wo es keine gibt – der Ferne Osten kannte in der Zeit des Kommunismus kein monastisches Leben. Das heutige Nonnenkloster gibt den Menschen die Möglichkeit, Mönchtum von einer anderen Seite kennen zu lernen. Die Nonnen pflegen sehr gute Kontakte zu einer staatlichen Schule, so dass ihnen immer wieder Schülerinnen aus schwierigen Verhältnissen anvertraut werden. Die Äbtissin erzählte uns von einer Schülerin, die bei den gebildeten Nonnen Nachhilfestunden nahm, ein Zuhause fand und schließlich ihre Ausbildung abschließen konnte. Sogar Soldaten helfen beim Aufbau - und im Winter beim Schneeräumen.
Ihre Kaserne befindet sich nicht weit vom Kloster: die Schützen-Kaserne in der Siedlung Fürst Volkonskij. Sie verfügt seit 2009 über eine Kapelle des Hl. Märtyrers Dmitrij Solomskij (Demetrios von Saloniki). Dort werden jedes Jahr mehr Menschen getauft, als in jeder anderen Kirche der Diözese. Seit 2010 wurden 1200 Soldaten getauft, an manchen Tagen sind es mehr als hundert. Wenige Kasernen haben eine eigene Kirche. Im Fernen Osten Russlands ist es die einzige vollwertige Kasernenkirche, sonst gibt es nur Gebetsräume oder kleine Kapellen. Sergij, ein Fernstudent des Chabarovsker Priesterseminars, ist in der Schützenkaserne zur Betreuung der Kirche abgestellt. Er hat seinen Militärdienst freiwillig um drei Jahre verlängert. Als er uns empfing, erzählte er mit strahlenden Augen von seiner Arbeit mit den Soldaten.
Er unterrichtet auch Staatsbürgerkunde, dieser Unterricht findet zweimal in der Woche statt und ist für die Soldaten verpflichtend. Seine Aufgabe ist außerdem die Vorbereitung der Soldaten auf die Taufe, wenn sie sich mit diesem Anliegen an ihn wenden. Das sind sehr elementare Unterweisungen: wie man in der Kirche betet, Ikonen verehrt, Kerzen anzündet, wie man sich als Christ verhält, was die Grundbegriffe des Glaubens sind. Kurz vor unserem Besuch sprach er mit einem Soldaten, der sich die Pulsadern aufgeschnitten hatte, weil er nicht beim Militär dienen wollte. Es stünden aber oft mehr Probleme im Hintergrund, familiäre und persönliche, erklärte er uns. Während unserer Führung kam spät abends ein Offizier zur Beichte, die der uns begleitende Bischof abnahm. Wir warteten inzwischen im Refektorium neben der Kirche, wo üblicherweise nach festlichen Gottesdiensten und besonders den Taufen Tee getrunken und Pirógen (gefüllte Weckerl) verspeist werden.
Zur Taufe des Herrn badet man in einem Becken, das jedes Jahr von den Soldaten im Freien neu gegraben oder errichtet wird. Der Priester segnet das Wasser am 20. Jänner in der kältesten Jahreszeit. Die Soldaten baden im Becken. Aber auch die Kinder der Offiziere kommen überraschenderweise zum Untertauchen ins heilige Wasser.
7. Ausblick
Ob Soldaten oder Nonnen, Studenten oder Museumsmitarbeiter – egal, wen man im Fernen Osten trifft, Religion ist ein Thema. Als Besucher aus Westeuropa kann man nur mit Respekt und Interesse die Situation verfolgen und für jeden Erfahrungsaustausch dankbar sein. Obwohl Chabarovsk tausende Kilometer von Wien entfernt ist und die Menschen eine andere Sprache sprechen, verbindet der christliche Glaube. Nach einer solchen Reise verändert sich der Blick auf die Situation der Kirche im eigenen Land. Die Begeisterung und Ernsthaftigkeit im religiösen Leben, die wir gesehen haben, und gleichzeitig die Schwierigkeiten und Herausforderungen, von denen uns berichtet wurde, sind ein Ansporn, weiter in den gemeinsamen Glauben an Christus hineinzuwachsen.
P. Bonifaz Tittel OSB, P. Sebastian Hacker OSB, Schottenstift, Wien, 2012
Anmerkungen:
(1) Übersetzung des Titels: „Когда человеку понятен смысл жизни на земле, тогда он счастлив.“ Titel einer Ausgabe der Zeitschrift der Diözese Chabarovsk Obraz i podobie. Gazeta o pravoslavnoj žizni Nr.4 November 2011
(2) Zu den indigenen Völkern zählen u.a. die Nanai und Ultschen.
(3) Lekcii izvestnogo sektoveda, istorika i pisatelja prošli v Chabarovske. - In: Obraz i podobie. Gazeta o pravoslavnoj žizni Nr.4 (9) Mai 2012, 6
(4) „Auch die Einwohner der besonders schlimm überfluteten Stadt Krymsk sind enttäuscht, dass die Popen Ertrunkene nicht gratis aussegneten und dass kein Gotteshaus den obdachlos Gewordenen half oder sie beherbergte; von der Weigerung von Patriarch Kyrill, seinen riesigen Palast bei Krymsk für Flutopfer zu öffnen, ganz zu schweigen.“ (Website der FAZ www.faz.net/aktuell/feuilleton/protest-in-russland-der-angekuendigte-tod-der-opposition-11825420.html – Stand: 08.11.2012)